das philosophische haeppchen - petite bouchée philosophique

Mittwoch, 30. Mai 2007

das reale, das symbolische und das imaginäre / le réel, le symbolique et l'imaginaire

Žižek's Parallax View

Nach dem triadische Modell der drei Strukturbestimmungen der Psyche: Reales, Symbolisches und Imaginäres (RSI).
Die Übertragung der abstrakten Lacanschen Begriffe auf Phänomene aus Politik, Philosophie, Alltag und Populärkultur.


Das Reale
ist ein recht rätselhafter Begriff und nicht mit der „Realität“ gleichzusetzen. Unsere Realität ist symbolisch konstruiert, also letztlich eine kollektiv praktizierte Fiktion. Das Reale dagegen ist innerhalb dieser Ordnung des Symbolischen ein nicht ‚fiktisierbarer‘ Kern, der sich nicht symbolisieren, nicht in Worte fassen lässt. Es hat keine positive Existenz, sondern existiert nur als Ausgeschlossenes, das an den Grenzen der gewöhnlichen Realität zum Vorschein kommt.

Nicht alles in der Realität lässt sich als Fiktion entlarven, es bleibt immer ein Rest des Realen übrig – bestimmte Punkte, die mit sozialen Gegensätzen, mit Leben, Tod und Sexualität oder allgemeiner dem logisch-rational nicht Greifbaren zu tun haben. Das Reale, sofern es das Subjekt überfordert und verunsichert, hat stets etwas Traumatisches an sich. Das Reale ist nicht eine tieferliegende Realität hinter der Realität, sondern besteht aus den Leerstellen, welche die Realität unvollständig und inkonsistent machen. Auf die Psychoanalyse bezogen bedeutet dies, dass die Realität nicht nur eine beliebige Erzählung unter vielen anderen ist. Vielmehr muss der Patient den harten Kern des Realen, die traumatische Dimension seiner Innenwelt, erkennen, aushalten und neu erzählen.

Die Triade des Realen/Imaginären/Symbolischen spiegelt sich innerhalb jedes einzelnen dieser drei Bereiche des Psychischen wider. Es gibt also entsprechend drei Modalitäten des Realen:

Das symbolische Reale – der auf eine sinnlose Formel reduzierte Signifikant (vgl. etwa die Quantenphysik, die wie jede Wissenschaft ans Reale greift, aber kaum nachvollziehbare Vorstellungen produziert).
Das reale Reale – ein grauenhaftes Ding, etwa das, was in Horrorfilmen das Gefühl des Horrors vermittelt.
Das imaginäre Reale – ein unergründliches Etwas, das als „Erhabenes“ (Kant) durch die Dinge hindurch scheint. Diese Art des Realen wird etwa in dem Film Ganz oder gar nicht – Full Monty daran deutlich, dass sich die arbeitslosen Protagonisten beim Striptease vollkommen ausziehen, wodurch in der zusätzlichen „freiwilligen“ Erniedrigung zugleich etwas Erhabenes, eine eigene Würde sichtbar wird.


Das Symbolische
bildet unsere (soziale) Realität und deren sprachliche und normative Dimension. Seine Elemente sind Signifikanten, d.h. bedeutungsvolle Zeichen, die sich zu einem „Netz“ der „symbolischen Ordnung“ strukturieren. Seine Geltung bezieht das Symbolische aus der Autorität des großen Anderen, insofern dieser als Herrensignifikant bzw. als Name-des-Vaters das Netz der Signifikanten strukturiert und legitimiert. Es ist damit auch die Sphäre der Herrschaft und der Diskurse – deren Macht wird vor allem als symbolische Macht versteht.

Als Herrschaftsverhältnis besitzt das Symbolische, wie schon das Herr-Knecht-Verhältnis bei Hegel, einen dialektischen Charakter, der auf gegenseitiger Anerkennung beruht. So ist „nur der ein König, zu dem sich die anderen als Untertanen verhalten“. Gleichzeitig gibt es immer – außer in der Paranoia – einen gewissen Abstand des Symbolischen zum Realen: „Nicht nur der Bettler ist verrückt, der glaubt, er ist ein König, sondern auch der König, der glaubt er ist ein König.“ Denn dieser hat ja nur das symbolische Mandat eines Königs, ist nur austauschbarer Träger einer ihm eigentlich äußeren Funktion.

Auch das Symbolische besitzt drei Dimensionen:

Das reale Symbolische ist der auf eine sinnlose Formel reduzierte Signifikant.
Das imaginäre Symbolische entspricht etwa den Jungschen Symbolen.
Das symbolische Symbolische ist das Sprechen und die sinnvolle Sprache, das „volle Sprechen“ etwa einer erfolgreichen Psychoanalyse.
Veranschaulichen lässt sich das Symbolische am Phänomen des Cyberspace. Als Medium der Kommunikation wirkt dort der Bildschirm, ein Inter-Face, der auf die symbolische Vermittlung jedes Sprechens verweist. Zwischen der aussagenden Person und der „Position des Aussagens“ (des Nicknames, der E-Mail-Adresse) besteht eine Kluft: Der Signifikant bin niemals wirklich ich. Der Sprechende erfindet sich nicht selbst, sondern seine virtuelle Existenz wurde in gewisser Weise schon mit dem Cyberspace selbst miterfunden. Man hat es hier mit einer fundamentalen Identitätsunsicherheit zu tun, die sich aber nicht in kontingente Simulakren und bloße Zeichenspiele auflösen lässt. Auch hier, wie im sozialen Leben, kreisen die symbolischen Netze um bestimmte, letztlich unauflösbare Leerstellen und Brüche. Die Frage dabei lautet nicht: „Was können wir vom Leben über den Cyberspace lernen“, sondern umgekehrt: „Was können wir vom Cyberspace über das Leben lernen?“.
(Diese in verschiedenen Zusammenhängen variierte Frage-Verdrehung dient der „theoretischen Psychoanalyse“: Im Gegensatz zur „angewandten Psychoanalyse“ will sie nicht die Kunstwerke analysieren und so das Unverständliche und Fremde verständlich machen, sondern einen neuen Blick auf das Gewöhnliche schaffen, den Alltag verfremden und die Theorie am Gegenstand weiterentwickeln)


Das Imaginäre
liegt auf der Ebene des Verhältnisses des Subjekts zu sich selbst bzw. zu seinem Selbstbild. Es ist der Ort der Identifikation mit dem eigenen Ich. Dieses imaginäre Selbstverhältnis bildet sich nach Lacan am Blick in den Spiegel auf sich selbst im Spiegelstadium, wobei Lacan betont, dass dieser Blick auf sich selbst, der immer auch den vorgestellten Blick eines Anderen bedeutet, letztlich auf einer „Verkennung“ beruht (vgl. dazu das Spiegelstadium).

Auch das Imaginäre lässt sich dreifach einteilen:

Ein reales Imaginäres (das Phantasma, das den Platz des Realen einnimmt).
Ein imaginäres Imaginäres (das Bild selbst).
Ein symbolisches Imaginäres (etwa die Archetypen nach Jung). Um über das Imaginäre sprechen zu können, so Lacan, muss man sich immer schon außerhalb des Imaginären befinden: Das Imaginäre ist im Grunde immer schon in das Symbolische eingebettet.
Alle drei Ebenen des Psychischen hängen nach Lacan in einer Art Borromäischer Knoten zusammen, als drei Ringe, die strukturell miteinander verbunden sind und sich gegenseitig Halt geben. Löst man einen von ihnen heraus, sind auch die anderen beiden nicht mehr verbunden, was letztendlich zu einem traumatischen Verlust an Kohärenz und damit zur Psychose führt.

Vgl. Slavoj Žižek / Jacques Lacan

Dienstag, 29. Mai 2007

die geburt der tragödie / la naissance de la tragédie

Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken—und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.

Friedrich Nietzsche (1886): Versuch einer Selbstkritik, Die Geburt der Tragödie, S. 17.

Samstag, 26. Mai 2007

„die existenz geht dem wesen voraus“ / „l'existence précède l'essence“

j-p-sartre

...der Mensch ist zur Freiheit verurteilt: er trifft in jeder seiner Handlungen eine Wahl, und sei es nur die zum Beispiel unter Folter, zu leben oder zu sterben. Äußerliche Zwänge aufgrund äußerer gesellschaftlicher, natürlicher oder göttlicher Direktiven gibt es nicht - dies sind Konstruktionen, die dem Menschen die Verantwortung für das, was er tut, nicht abnehmen. „Die Hölle, das sind die Augen der anderen“: die Erwartungen und Projektionen, die durch Mitmenschen an einen gerichtet werden, manipulieren dessen Handeln, wenn er ihnen gerecht zu werden versucht - aus Bequemlichkeit, weil er der Verantwortung ausweicht, sich selbst stets neu erfinden zu müssen.
„Die Existenz geht dem Wesen voraus“ / „L'existence précède l'essence“ - einzig sein nacktes Dasein ist dem Menschen vorgegeben; was ihn am Ende ausmacht, muss er erfinden.

Der Existentialismus ist ein Humanismus: „... weil wir die Existentialisten den Menschen daran erinnern, dass es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt und dass er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheidet; und weil wir zeigen, dass nicht durch Rückwendung auf sich selbst, sondern immer durch die Suche nach einem Ziel außerhalb seiner, welches diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist - dass dadurch der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird. “

L’Existentialisme est un humanisme ...der Mensch ist durch den Zufall seiner Geburt in die Existenz „geworfen“ . Der Mensch muss aktiv selbst versuchen, dem Leben einen Sinn zu geben.


Vgl. Jean-Paul Sartre

Donnerstag, 26. Oktober 2006

ärsche >>zur psychosomatik des zeitgeistes<<

lachender arsch - cul riant

Der Arsch scheint dazu verurteilt, sein Dasein im Dunkeln zu fristen, wie der Chlochard unter den Körperteilen. Er ist der wirkliche Idiot der Familie. Doch es wäre ein Wunder, wenn dieses schwarze Schaf des Körpers nicht über alles, was in den höheren Regionen passiert, seine eigene Meinung hätte, ähnlich wie die Deklassierten oft den nüchtersten Blick auf die Leute in den oberen Rängen werfen. Ließe sich der Kopf nur mal ins Gespräch ein mit seinem Antipoden, so würde ihm dieser als erstes die Zunge herausstrecken, wenn er eine hätte. Wie in dem Aufklärungsfilm der Roten Grütze Was heißt hier Liebe würde der Arsch zu den höheren Sphären sagen: Ich finde, daß unser Verhältnis zueinander beschissen ist.
Der Arsch ist der Plebejer, der Basisdemokrat und der Kosmopolit unter den Körperteilen, mit einem Wort das elementare kynische Organ. Er liefert die solide materialistische Basis. Auf den Klos aller Herren Länder ist er zu Hause. Die Internationale der Ärsche ist die einzige weltumspannende Organisation, die auf Statuten, Ideologie und Mitgliedsbeiträge verzichtet. An ihrer Solidarität ist nicht zu rütteln. Spielend überwindet der Arsch alle Grenzen, im Unterschied zum Kopf, dem Grenzen und Besitztümer viel bedeuten. Ohne Einwände hockt er auf diesem oder jenem Stuhl. Einem unverdorbenen Arsch importiert der Unterschied zwischen einem Thron und einem Küchenschemel, einem Hocker und einem Heiligen Stuhl nicht besonders. Es darf auch mal der Erdboden sein, er mag nur nicht stehen, wenn er müde ist. Diese Neigung zum Elementaren und Grundsätzlichen prädisponiert den Arsch eigentümlich zur Philosophie. Wohl registriert er die Nuancen, aber es fiele ihm nicht ein, um sie soviel Aufhebens zu manche wie die eitlen Köpfe, die sich über die Besetzung von Stühlen gegenseitig blutig schlagen. Er verliert nie den Blick auf das, worauf es letztlich ankommt, den festen Boden. Auch im erotischen Sinn zeigt sich der Arsch oft zugleich gefühlvoll und überlegen. Er gibt sich nicht wählerischer als nötig . Auch da ist er es, der leicht über eingebildete Grenzen und Exklusivitäten hinwegkommt. Als man der seinerzeit berühmten Arletty vorwarf, mit den deutschen Besatzern sexuelle Beziehungen gehabt zu haben, soll ihre Antwort gewesen sein: "Mon cœur est français, mais mon cul est international". Als Repräsentant des kynischen Prinzips schlechthin (überall leben können, Reduktion aufs Wesentliche) läßt sich der Arsch kaum verstaatlichen, obwohl man nicht leugnen kann, daß schon manches Arschloch nationalistische Töne von sich gegeben hat.
Viel geprügelt, getreten und gekniffen, hat der Arsch ein Weltbild von unten, plebejisch, populär, realistisch. Jahrtausende schlechter Behandlung sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Sie haben ihn zum Materialisten erzogen, doch einem der dialektischen Richtung, die davon ausgeht, daß die Dinge beschissen, aber nicht hoffnungslos sind. Nichts macht so bitter wie das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Allein der Unterton an Faszination, der durch soviel Mißachtung hindurchzuhören ist, gibt dem Unterdrückten ein heimliches Machtgefühl. Eine Sache, von der man so hartnäckig schweigt, obwohl man ihr nicht ausweichen kann, muß eine große Macht über die Geister haben. Hinter den stärksten Schimpfwörtern steckt oft die besten Energien. Es ist, als ob all die mißachteten Hintern auf ihre Stunde warten, um Revanche zu feiern in der absehbaren Zukunft, wenn wieder mal alles im Arsch sein wird. Zeitgefühl ist überhaupt eine ihrer besonderen Stärken, denn Ärsche entwickeln von früh auf ein Gefühl für das, was sofort sein muß, für das, was sich aufschieben läßt, und für das, was man mit geduldigem Sitzfleisch bis zum Jüngsten Tag warten lassen kann. Das ist eine geradezu politische Kunst, die man heute als timing bezeichnet und die ihre Wurzeln hat in einer Praxis, die schon die Kinderärsche einüben, das, was sein muß, zur richtigen Zeit, früh genug und spät genug, zu verrichten.
Der Arsch triumphiert heimlich durch das Bewußtsein, daß es ohne ihn nicht geht. Dasein kommt vor dem Sosein; erst die Existenz, dann die Qualitäten; erst die Wirklichkeit, dann Gut und Böse, Oben und Unten. So sind die Ärsche, von ihren dialektisch-materialistischen Neigungen abgesehen, auch die ersten Existentialisten. Sie üben die existentielle Dialektik im voraus: soll man sich für das entscheiden, was ohnehin sein muß, oder wählt man die Revolte gegen das Unvermeidliche? Auch wer sich entscheidet, den Dingen ihren eigenen Gang zu lassen, hat sich, wie Sartre sagt, dafür entschieden, sich nicht zu entscheiden. Die Freiheit gibt sich der Notwendigkeit hin. Er kann sich aber auch dagegen entscheiden, natürlich nicht dagegen, daß er muß, aber dagegen, daß das Müssen alles mit ihm machen kann. Er kann dagegen ankämpfen und das, was sein muß, zurückhalten; dann ist er, mit Camus, der Mensch in der Revolte. Kein Mensch muß müssen, sagt Lessings Nathan, der Volksmund setzt hinzu: nur sterben und scheißen muß man. Das bleibt das kynische Apriori. Dem dialektischen Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit ist also der Arsch von allen Organen des Körpers am nächsten. Nicht zufällig widmet ihm die Psychoanalyse - eine durchaus kynisch inspirierte Disziplin - subtile Untersuchungen und benennt ein grundlegendes anthropologisches Stadium, die anale Phase, nach Erfahrungen und Schicksalen des Arsches. Seine Themen sind Können und Nichtkönnen, Müssen und Nichtdürfen, Haben und Zurückhalten. Das Leistungsprinzip steckt darin. Den Arsch verstehen wäre daher die beste Vorschule zur Philosophie, die somatische Propädeutik. Wieviel verstopfte Theorien wären uns erspart geblieben! Wieder ist es Diogenes, der uns hier begegnet. Er war der erste europäische Philosoph, der statt vieler Worte auf dem athenischen Markt seine Notdurft verrichtete. Naturalia non sunt turpia. In der Natur finden wir nichts, wofür wir uns schämen müßten, sagt er. Wirkliche Bestialität und pervertierte Geister finden wir erst dort, wo die Arroganz der Moral und die Verwirklichung der Kultur einsetzen. Die Köpfe wollten aber nicht wahrhaben, daß dies eine frühe Sternstunde der Vernunft war, ein Moment, in dem die Philosophie einen Ausgleich mit dem Naturprinzip gefunden hatte. Einen Augenblick lang war sie schon jenseits von Gut und Böse und jenseits des Naserümpfen. Die seriösen Denker dagegen beharren auf ihrer Ansicht; nach ihnen kann es nur ein Scherz gewesen sein oder eine provokative Schweinerei. Sie weigern sich, einen wahrheitsproduktiven Sinn in einer solchen Manifestation zu vermuten.

Aus dem Buch >>Kritik der zynischen Vernunft<< in zwei Bänden von Peter Sloterdijk, 1983, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Mittwoch, 25. Oktober 2006

brüste >>zur psychosomatik des zeitgeistes<<

Angelina-Jolie

In der modernern Medien- und Modezivilisation herrscht ein atmosphärisches Gemisch aus Kosmetik, Pornografie, Konsumismus, Illusion, Sucht und Prostitution, für das die Enthüllung und Abbildung von Brüsten typisch ist. In der Warenwelt scheint nichts mehr ohne sie zu gehen. Jeder spekuliert zynisch auf die Suchtreflexe der anderen. Bei allem, was nach Leben aussehen und Wünsche wecken soll, sind sie dabei, als Universalornament des Kapitalismus. Alles, was tot, überflüssig, entfremdet ist, macht mit lachenden Formen auf sich aufmerksam. Sexismus? Wenn es so einfach wäre. Reklame und Pornographie sind Sonderfälle des modernen Zynismus, der weiß, daß die Macht den Weg über die Wunschbilder gehen muß und daß man die Träume und Süchte der andern zugleich reizen und frustrieren kann, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen, wie man gesagt hat, sondern genauso die Kunst der Verführung. Sie ist die Schokoladenseite der Macht, die davon ausgeht, daß erstens Ordnung sein muß und zweitens die Welt betrogen werden will.
Diese modernen Geschäftsbrüste existieren, philosophisch gesprochen, nur an sich, als Dinge, nicht für sich, als bewußte Körper. Sie bedeuten bloß eine Macht, eine Attraktion. Aber was wären Brüste für sich selbst, unabhängig von ihrer zynischen Entblößung auf dem Warenmarkt? Wie verhalten sie sich zu der Macht und Energie, die von ihnen ausgeht? Viele möchten mit diesem Spiel von Macht, Anziehung und Begehren am liebsten gar nichts mehr zu tun haben. Andere verkörpern bewußt und frivol ihren Appel an das andere Geschlecht. Ewas von ihrem Machtbewußtsein steckt noch in dem abgedroschenen Sprichwort von den >>Waffen einer Frau<<. Manche sind auch unglücklich, weil sie nicht aussehen wie die Idealbrüste der Reklame. Nackte fühlen sie sich nicht allzu wohl, wenn sie die herrschende Ästhetik nicht auf ihrer Seite haben. Manche jedoch haben die Süße von reifen Birnen, die so schwer und freundlich zu sich selber geworden sind, daß sie bei guter Gelegenheit von Baum fallen in eine Hand, von der sie sich erkannt fühlen.

Aus dem Buch >>Kritik der zynischen Vernunft<< in zwei Bänden von Peter Sloterdijk, 1983, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

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leitartikel / éditorial

>>selbstkritik / autocritique<< Knochen und steine im körper, im gehirn? Das knöcherne überkommener vorstellungen, jener vorstellungen, die nur mir gehören und dennoch übernommen sind und wie ein klischee funktionieren. Die verknöcherte, vergefertigte vorstellungen, die selbst dann, wenn ich ihr autor bin und als einziger an sie glaube, wie ein gemeinplatz wirkt und in der folge die kraft, die bewegung, die freiheit meines denkens blockiert. Es gibt gemeinplätze, die keinen autor haben. Es gibt aber auch solche, deren autor und ursprung ich selbst bin. Auf jene letzteren reagiert attaque verbal wie sartre allergisch; den ganz persönlichen klischees, den privaten gemeinplätzen hat er den gnadenlosen kampf angesagt. Gegen sich selbst andenken. Leichthin geäußerten worten und haltungen neues gewicht geben. Die vorgezeichneten wege durchkreuzen. Eingeschliffene verkettungen aufsprengen. Dynamit an die eigenen gedanken legen, sie aus gewohnten bahnen schleudern. Die reflexion gegen die eigenen neigungen bis zu einem sochen punkt vorantreiben, daß schließlich, wie es in den wörtern heißt, "ein gedanke um so einleuchtender" erscheint, "je mehr er" dem mißfällt, der ihn nährt. Kurz: die wahrheit suchen und dabei, wie nietzsche empfahl, darauf bedacht sein, gegen die eigenen neigungen partei ergreifen. Wozu soll denken gut sein, wenn nicht dafür, das zu denken, wofür ich nicht im mindestens prädestiniert bin? Darauf konzentriert sich die ganze anstrengung des sartreschen und des attaque verbal'schen denkens. Das wird von uns, seinen lesern heute und morgen, verlangt. Wie werden wir ins 21. jahrhundert eintreten - mit oder ohne klischees? >>Siehe lévy, bernard-henri, was ist ein ungeheuer? (biographische krümmel) und vgl. réne schérer, regards sur deleuze sowie jean-paul sartre, die wörter<<

sehenswerte filme / méritant d'être vu filme

SALÓ - Die 120 Tage von Sodom ist ein Spielfilm des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1975. Der Film basiert auf dem Buch Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade.



AVIDA - Ein Taubstummer und zwei Drogenabhängige versuchen, den Hund einer reichen, schwer übergewichtigen Frau zu entführen. Dies misslingt. Die Frau erreicht, dass die Entführer ihr vor ihrem Tod einen letzten Wunsch erfüllen. Den Regisseuren gelingt eine skurrile bildgewaltige Fabel, eine schrille Art von Film Noir.



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